Am liebsten würde ich mich mit einem eleganten Haute-Couture Afternoon-Kleid in Schale geworfen (Prêt-à-Porter existiert noch nicht oder ist in dieser Gesellschaft impossible) in die 1920/30er von London beamen und den ladies beim Tee (oder lieber Whiskey?) lauschen. Gespannt würde ich Ihnen beiwohnen wie sie trinkend und rauchend das Leben diskutieren. Es muss ein aufregendes Privileg gewesen sein, sich als erste Frau aufs Parkett zu trauen, um sich den künstlerischen und akademischen Ambitionen der Männerwelt zu stellen. Bildung geniessen, produktiv sein und ein eigenes Einkommen (oder genug Familiengeld) haben, das bedeutet Freisein. – Fragezeichen.

History oder Herstory, hin oder her, highbrow oder lowbrow, Kopf oder Bauch – egal, diese drei Leben, die Lisa Cohen in ihrem Buch All we know. Three Lives (2012) vor der Vergessenheit rettet, sind so reichhaltig. Nach jahrelangen Recherchen präsentiert Cohen drei Talente, die mir jetzt zum Glück nicht mehr völlig unbekannt sind: Esther Murphy, Mercedes de Acosta und Madge Garland. Die Heldinnen von Sex in the City können diesen Ladies nicht den Cocktail reichen. Nie und nimmer!
Von Grund auf verschieden, haben die drei Frauen Folgendes gemeinsam: jede ist um 1890 geboren, jede kennt die anderen beiden, jede bevorzugt im Liebesleben ihr eigenes Geschlecht und alle drei haben hervorragende, rebellische Leben in den Kreisen der Upperclass von Hollywood, New York, London, Paris und Rom geführt. Angst, Depression und Liebeskummer sind natürlich auch Stimmungen, die die drei Frauen immer wieder begleiten.
Alle drei bewegen sich im Kreis von Personen, die öffentliches Ansehen in grossen Massen geniessen: Scott Fitzgerald, Gertrude Stein, Ansel Adams, Igor Strasvinsky, Marlene Dietrich oder Virgina Woolf. Alle drei Frauen haben die Vorstellungen der Moderne (der modernen Frau, Philosophie, Kunst, Architektur, Mode, etc) geprägt. Alle drei haben Talent, so viel Talent, wie wir in diesen Biographien erfahren, und dennoch kein Denkmal in Form eines Monuments oder eines Bestsellers vorzuweisen. Wie ist das möglich? Weil sie Frauen sind, oder weil sie im Liebesleben ihr eigenes Geschlecht bevorzugen, oder weil sie keinen ökonomischen Druck verspüren, oder weil sich ihre Talente in nichts Greifbares verwandeln lassen?

Esther Murphy, 1923, Southampton: „For five decades, Esther Murphy built a wall of words around herself.“
Esther zum Beispiel, so berichtet eine Zeitgenössin, sitzt ihr ganzes Leben lang in Cafes und trinkt Alkohol und spricht und spricht und spricht – vorzugsweise über französische Geschichte, den Hof von Louis XIV und Madame de Maintenon, seiner geheimen Ehegattin. Cohen nennt Esther in ihrem Buch „a perfect failure“. Von dieser hochintelligenten, hochgewachsenen Frau, die als ohne-Ende-monologisierendes Wunder bekannt ist, erwarten sich alle ein Meisterwerk. Über Madame de Maintenon will sie eine Biographie verfassen. 30 Jahre lang spricht sie über Maintenon, ohne jemals das Buch zu schreiben. Cohen vermutet, dass das Verbalisieren an sich, das sie wie das Ein- und Ausatmen beherrscht, ihr Manifest ist.

Mercedes de Acosta – The seductress.
Die zweite im Bunde, Mercedes de Acosta, eine Drehbuchautorin, vergöttert die Diven ihrer Zeit und wird als vermeintliche Liebhaberin von Greta Garbo gehandelt. Heute würden wir sagen, sie ist ein berühmter Groupie. Die Faszination der Fankultur, die Cohen in ihrem Buch schildert, kann ich nicht ganz nachvollziehen, weil ich selbst kein besonders grosser Fan von einer bestimmten Persönlichkeit, die ich bewundere, bin. Die Aufwertung dieser als trivial gesehenen Kultur finde ich jedoch interessant und wichtig. Ein Fundstück gefällt mir sehr gut: Die streng katholisch erzogene De Acosta hinterlässt ihre Bibel als Look-book, deren Seiten mit anmutenden Bildern von Greta Garbo, Marlene Dietrich und Co vollgeklebt sind. Weitere Details über ihr bewegtes Leben sind in ihrer Biographie Here lies the heart (1960) – Anmerkung einer in Cohens Buch zitierten Zeitgenössin: „and it lies and lies and lies…“ – nachzulesen.

Madge Garland (zweite von rechts) mit Freundinnen in Südfrankreich, Ender 1920er
Fussball ist sehr wichtig. Und Mode? Madge Garland lebt ihr Leben für die Mode und zeigt uns, dass velvet ebenfalls very important ist. Sie und ihre Mitarbeiterinnen bei der britischen Vogue Modezeitschrift sind dafür verantwortlich, dass Mode einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert bekommt und nicht als etwas „weibliches“ im Hintergrund existierendes ausgeblendet bleibt. In der Vogue begegnen sich erstmals, für damals ist das revolutionär, Mode und Kunst sowie Design und Literatur auf einer Augenhöhe. Garland ist die erste Fashion-Professorin an der Fashion School des Royal College of Art in London. Sie schreibt viele Bücher und Essays. Unter anderen gefällt mir dieser Titel: Changing Face of Beauty: 4000 years of beautiful women (1957).
Und hinterlässt sie uns etwas Greifbares, ausser ihren Schriften? Es bleibt uns dieses Monument für die Vergänglichkeit: Im Jahr 2000 zum 50. Jubiläum der Modeschule des Royal College of Art wird ein Duft zu Ehren von Madge Garland kreeirt: „feminine and sensual, with white hyacinth and lily of the valley, and bright top notes of tangerine and rhubarb to bring it into the 21st Century“ (356).

Madge Garland am Set von Seven Ages of Fashion mit Allan Hargreaves (Co-Moderator), circa 1975
Ich denke, dass wir alle diesen drei Abenteuerinnen einiges zu verdanken haben. Auf, auf, führt es Euch zu Gemüte! Dieses Buch ist wunderbar! Es gibt noch viel zu tun!
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